«Seit Jahrzehnten beherrscht eine Bauern- und Chemielobby unsere Lebensmittelproduktion. Per Initiative kann dem endlich ein Ende gemacht werden.» Die hochaktuelle Politkolummne von Rudolf Strahm im TA-Online vom 23. 3. 2021 geht alle KonsumentInnen etwas an. Rudolf Strahm ist ehemaliger Preisüberwacher und alt Nationalrat, Oekonom und Chemiker.

fieser Pestizid Kuhhandel
Der politische Kuhhandel zwischen dem Bauernverbandspräsidenten Markus Ritter und den freisinnigen Konzern-Vertretern im Ständerat gehört zur fieseren Sorte von Politintrigen.

Der Deal ist bereits im August 2020 aufgegleist worden: Ritter versprach den Freisinnigen die Bekämpfung der Konzernverantwortungsinitiative durch den Bauernverband – und im Gegenzug sagten sie ihm die Bekämpfung der ökologischen Agrarreform des Bundesrates zu. Darauf drückte Ritter im Bauernverband die Nein-Parole zur Konzernverantwortungsinitiative durch, obschon manche Landwirte diese zuvor befürwortet hatten.

Dieser Deal ist letzte Woche nun in Erfüllung gegangen: Eine bürgerliche Mehrheit hat nach dem Ständerat auch im Nationalrat die Vorschläge von Bundesrat Guy Parmelin zur Agrarpolitik 22+ «sistiert». Mit dieser Vorlage wollte der Bundesrat den Pestizideinsatz und die Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft wirksam senken und den Treibhausgas-Ausstoss mindern.

«Sistieren» heisst nun aber Folgendes: Zuerst will diese unheilige Allianz zwischen Bauernverband und Chemieindustrie die Trinkwasserinitiative und die Pestizidinitiative in der Volksabstimmung des kommenden 13. Juni abschmettern. Und wenn der Druck des Volkes dann weg ist, soll im Parlament eine neue Agrarvorlage mit verminderten ökologischen Auflagen und noch mehr Intensivproduktion durchgepaukt werden. Als weiteres Zückerchen für die Chemiebauern beschloss der Ständerat per Motion, die zuvor festgelegten Gewässerschutzräume in der Landwirtschaftszone wieder zu verkleinern; dies zur Konsternation der kantonalen Gewässerschutzämter.

«In der halben Schweiz ist das Grundwasser über die Grenzwerte hinaus belastet.»

Wer die Medien zur Kenntnis nimmt, weiss, dass unser Trinkwasser schon lange in Not ist. In der halben Schweiz, namentlich im Mittelland, ist das Grundwasser mit zu hohen Werten von Pestiziden und deren Metaboliten (Abbaustoffen) über die Grenzwerte hinaus belastet. Von allen Ländern Europas werden in der Schweiz pro Hektare am meisten Pestizide ausgetragen.

In allen Gemüseanbauregionen sind die Grenzwerte bei den Trinkwasserfassungen massiv überschritten. Grenzwertüberschreitungen werden auf Druck der Agrarlobby nur sporadisch bekannt gegeben. Messdaten von Einzelfassungen werden unterdrückt. Erst jüngst wurde zwei Trinkwasserspezialisten im Schweizerischen Verein des Gas- und Wasserfachs ein Maulkorb verpasst, einer davon wurde entlassen. Erst aus zusammengefassten kantonalen Statistiken lässt sich später das Ausmass ermitteln.

Die Chemikalienzulassung wird diskret von der Pestizid-Lobby diktiert. Obschon die Gefährlichkeit des Syngenta-Fungizids Chlorothalonil seit 2001 nachgewiesen wurde, hat es der Bund erst 2019 gestoppt – erst nachdem die EU es verboten hatte. Auch nach dem Einsatzverbot bleiben in 20 Gemeinden die Thalonilwerte im Trinkwasser um bis zum 20-Fachen überschritten. Chlorierte Kohlenwasserstoffe bleiben während Jahrzehnten im Grundwasser. Per Richterbeschluss verbot die zum chinesischen Staatskonzern ChinaChem gehörende Syngenta den Bundesbehörden, Chlorothalonil als «wahrscheinlich krebserregend» zu bezeichnen.

«Ursache der Überdüngung ist der zu hohe Tierbestand, der mit dem Import von 1,6 Millionen Tonnen Futtermittel gestützt wird.»

Seit den 1980er-Jahren haben wir im Mittelland zudem das Krebsübel von zu hohen Nitratwerten im Grundwasser. Seit 1985 mussten Dutzende, wenn nicht Hunderte Grundwasserquellen abgestellt werden. Das Ausweichen auf entferntere Trinkwasserquellen und Seewasserentnahmen kostete Hunderte Millionen Franken. Gemeinden und Wasserkonsumenten bezahlten. Auch 2019 sind wiederum in 76 Messstellen die Nitratgrenzwerte überschritten worden.

Ursache der Überdüngung ist der zu hohe Tierbestand, der mit dem Import von sage und schreibe jährlich 1,6 Millionen Tonnen Futtermittel aus dem Ausland (für alle Nutztierarten) gestützt wird. Davon sind rund 80% Kraftfutter mit hohem Energie- und Proteingehalt, wie etwa Soja aus gerodeten Urwaldflächen im Mercosur. Zusätzlich zu den 400’000 Hektaren Ackerfläche in der Schweiz werden über solche Kraftfutterimporte etwa weitere 200’000 Hektaren im Ausland genutzt. Viel ökologischer wäre es, wenn zertifiziertes Weidefleisch aus Mercosur-Ländern direkt eingeführt werden könnte.

Ich war Anfang der 1990er-Jahre bei der Agrarreform dabei, als man erstmals die Direktzahlungen an die Landwirte einführte. Die Wirtschaftskommission WAK des Nationalrats beschloss – gegen den Willen des damaligen Direktors des Bundesamts für Landwirtschaft BLW, Jean-Claude Piot –, dass die Hälfte der Direktzahlungsmittel den Biolandwirten zukommen müssen, um deren Marktanteil zu erhöhen. Doch dieser WAK-Beschluss wurde bald darauf von der Verwaltung unterlaufen. Und seither wird getrickst, geschummelt und es werden immer neue Schlupflöcher für die Pestizidwirtschaft geschaffen.

«Der Bauer ist Gefangener und Opfer im Hamsterrad des Produktivitätskarussells.»

In jungen Jahren habe ich als Chemiker in der Schädlingsbekämpfungs-Forschung bei der Firma Geigy Basel gearbeitet. Sie ist heute dem chinesisch beherrschten Syngenta-Konzern einverleibt. Vierzig Jahre später hatte ich als Preisüberwacher wiederum mit dem Pestizidmarkt, diesmal wegen überhöhter Preise, zu tun. Gerade weil ich die Pestizidchemie kenne, würde ich dezidiert sagen: Der Bauer ist heute schlicht nicht in der Lage, zu beurteilen, was ihm die Berater der Pestizidfirmen andrehen. Er ist gewissermassen Gefangener und Opfer im Hamsterrad des Produktivitätskarussells, selbst wenn er sich der integrierten Produktion verpflichtet fühlt.

Im Januar oder Februar werden jeweils die Landwirte von der Landi einzeln zu einem Bestellungsgespräch eingeladen. Jeder erhält 15 bis 30 Minuten bei einem «Berater», der zugleich als Verkäufer von Syngenta, Bayer oder Maag wirkt. Früher gab es noch Hofbesuche. Dann wird gemäss Anbauplan und Hektarberechnung für jede Kultur ein Pestizidprogramm errechnet und die Bestellung aufgenommen. Oft gibt es bei Frühbestellungen 10% Rabatt. Die Pestizid-Tonnage wird danach nicht direkt auf den Hof, sondern über die Landi ausgeliefert. So wird der Bauer dauernd an den Fenaco-Konzern mit seinen sieben Milliarden Umsatz und marktbeherrschender Stellung gebunden.

Mit einem solchen Vertriebssystem wird ein Pestizid-Absenkungspfad ohne Verbote, wie ihn das Parlament als Alibi-Ersatz nun fordert, wirkungslos bleiben. Dieser legt keine Absatzziele fest, ist nicht kontrollierbar, nicht durchsetzbar und wird todsicher wie die bisherigen Aktionspläne umgangen werden. Bloss eine weitere Täuschungsrunde!

«Dass die biologische Produktionsmethode funktioniert, haben unsere Biobetriebe längst bewiesen.»

Der agroindustrielle Komplex aus Syngenta, Fenaco, Agroscope, Bauernverband und BLW steuert diskret, aber wirksam unsere Agrarpolitik. Im Hintergrund wirkt auch die Economiesuisse, deren heutiger Präsident Christoph Mäder zuvor 18 Jahre lang Syngenta-Manager war.

Einzig die rund 7300 Biobetriebe, die 11% Marktanteil beitragen, haben sich diesem Intensivierungskarussell entziehen können. Dass die biologische Produktionsmethode funktioniert, haben unsere Biobetriebe längst bewiesen. Obschon ihre Produktionspreise nur 10–15% höher liegen, werden die Bio-Produkte im Detailhandel indes 50% teurer verkauft als die konventionellen und IP-Produkte. Würde die Bioproduktion nach einem Pestizidverbot einen marktfüllenden Anteil erzielen, würden deren Handelspreise sicher sinken.

Wir erleben nunmehr dreissig Jahre ökologischen und ökonomischen Agrar-Irrsinn. Es gibt nur einen einzigen realistischen Weg, diesen festgefahrenen agroindustriellen Trend zu brechen, nämlich mit der Trinkwasserinitiative oder der Pestizidinitiative oder mit beiden. Diese streben innert eines Jahrzehnts eine schrittweise Umsteuerung an. Jetzt, nach dem fiesen Kuhhandel des Agrobusiness,  ist dies erst recht nötig!

Publiziert mit freundlicher Genehmigung des Tages-Anzeigers.

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Quelle: TA-Online vom 23. 3. 2021

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