- 24. Juni 2022
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Gemäss Bund hat die verkaufte Menge Antibiotika für Nutztiere wie Kühe, Kälber, Schweine und Hühner auch im Jahr 2020 abgenommen. Seit 2011 beträgt der Rückgang mehr als 50 Prozent. Doch diese Zahlen täuschen.
Der Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung ist sehr problematisch, denn dadurch entstehen immer mehr Resistenzen, die Infektionen auch beim Menschen gefährlich machen: Diese können nicht mehr mit Antibiotika behandelt werden. Mehr als 1,2 Millionen Menschen auf der Welt starben 2019 einer wissenschaftlichen Schätzung zufolge unmittelbar an einer Entzündung mit einem Antibiotika-resistenten Erreger. Die hiesige Landwirtschaft rühmt sich, den Antibiotikaverbrauch in den vergangenen 10 Jahren um mehr als die Hälfte reduziert zu haben.
Gemessen an den eingesetzten Tonnen Antibiotika stimmt das. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn moderne Antibiotika sind viel wirksamer, das heisst, um ein Tier zu behandeln braucht es eine viel niedrigere Dosierung. Zum Vergleich: Ein Kilo Sulfadimidin, das 1942 auf dem Markt kam, reicht für die Behandlung von 100 Schweinen. Die gleiche Menge des modernen Antibiotikums Enrofloxacin mit dem Wirkstoff Fluorochinolon reicht aber für 8’000 Behandlungen. Die Abnahme der Verkaufsmenge ist also irrelevant, solange die Anzahl behandelter Tiere gleichbleibt oder zunimmt. Die Anzahl Tierbehandlungen wird aber erst seit 2020 erhoben.
Antibiotika-resistente Bakterien
Die Landwirtschaft ist zwar nicht die einzige Quelle von Antibiotika-resistenten Bakterien, doch eine sehr bedeutsame angesichts der hohen Anzahl Nutztiere und der Bedeutung der Übertragungswege Gülle, Mist und Lebensmittel. «Wir essen rohes Gemüse und Salate, die über Gülle & Co mit Antibiotika-resistenten Bakterien kontaminiert sein können», gibt Janine Braun, eine Schweizer Nutztierwissenschaftlerin der Berner Fachhochschule sowie der Universität Wageningen zu bedenken. Wie stark Schweizer Gemüse und Salate belastet sind, wird zurzeit an der Forschungsanstalt Agroscope untersucht.
Es geht auch ohne Antibiotika
Euterentzündungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen von Milchkühen. Sie sind gemäss Wissenschaftlerin Braun der Hauptgrund für den Einsatz von Antibiotika beim Milchvieh. Deren Einsatz, wenn auch nicht allein, bewirkt, dass immer mehr Antibiotika gegen krankmachende Keime keine Heilung bringen. Doch es geht anders: Auf dem Biobetrieb Lehenhof in Rothrist AG, wo Janine Braun aufgewachsen ist, erfolgte die letzte Euterbehandlung mit Antibiotika im August 2005.
Erfolg mit Natur und Gesundheit
Aktuell umfasst der Lehenhof rund 50 Milchkühe und 50 Hektaren landwirtschaftliche Nutzfläche, wovon etwa ein Drittel vom Bund finanziell geförderte Biodiversitätsförderflächen sind. Die Vision des Betriebs ist es, das Grasland des Lehenhofs mit Hilfe von Rindern in wertvolles Protein für den Menschen umzuwandeln. Tierwohl, Respekt vor der Natur und den Gedanken an die nächste Generation sind dabei zentral. Das bedeutet: geschlossene Betriebskreisläufe, Zucht auf Tiergesundheit, artgerechte Tierhaltung und -Fütterung und Alternativmedizin für die Tiere. Lehenhof-Kühe leben anders als die meisten Milchkühe der Schweiz: Schon mal, weil sie täglich auf der Weide fressen. Der Verzicht auf Getreide oder Soja hat allerdings zur Folge, dass die Kühe weniger Milch geben: nämlich nur etwa 5 bis 6000 Liter pro Kuh und Jahr anstatt 10 oder 12‘000 wie Hochleistungskühe.
Gesundheit als Zuchtziel
Die Milchkühe sind dafür aber sehr gesund, gebären viele gesunde Kälber und geben lange gute Milch. «Zehnjährige Kühe sind auf dem Lehenhof respektierte Familienmitglieder», sagt Janine Braun. Nur die besten Kühe in Bezug auf Gesundheit und Fruchtbarkeit kommen für die Nachzucht in Frage. Familie Braun möchte kleine, weidefähige, fitte und fruchtbare Zweinutzungstiere, die Fleisch und Milch geben. Letzteres bedeutet, dass man sich auf dem Lehenhof auch über männliche Kälber freut. Diese gelten nicht als «Abfallprodukt» der Milchwirtschaft. Auch männliche Kälber leben und saugen bei den Müttern und Ammen und werden nach rund 150 Tagen an einen Bio-Weidemast-Betrieb in Eptingen weitergegeben. Das Immunsystem der Kälber ist voll entwickelt, bis es auf den Partnerbetrieb geht. So sind sie kaum krank.
Trotz geringerer Milchleistung guter Verdienst
Auf dem Lehenhof geben die Kühe weniger Milch als üblich, dafür wächst ihr Futter auf der Weide ohne zugekauften Dünger, ohne fremde Gülle oder Mist. Das verhindert einen Eintrag von Antibiotika-resistenten Keimen von aussen, so Janine Braun. Die Milch aus antibiotikafreier Milchviehhaltung ist begehrt und werde angemessen bezahlt. Jüngst hat sich Aldi dafür entschieden, sie in sein Sortiment aufzunehmen und speziell auszuloben. Der Betrieb ist ökonomisch erfolgreich: «In diesem geschlossenen System bleibt das Geld bei den LandwirtInnen, da weder Dünger noch Futtermittel zugekauft werden. Für die Agrarindustrie allerdings sind solche Betriebsstrategien nicht interessant», so Janine Braun.
Janine Braun
Janine Braun studierte Nutztierwissenschaften an der ETH Zürich und untersuchte in ihrer Masterarbeit die Resistenzsituation von acht Milchviehbetrieben in der Schweiz. Ihr Doktorat an der Berner Fachhochschule in Zusammenarbeit mit der Universität Wageningen (NL) schreibt sie über die Nachhaltigkeit von Milchproduktionssystemen. Janine Braun ist auf dem Lehenhof aufgewachsen und Geschäftsführerin von BioFair Schweiz.